Antonio Vivaldi (*2012, wiedergeboren)

Der neue Vivaldi

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Wie kann man einem dreihundert Jahre alten Stück heute noch etwas Neues abgewinnen? Besonders, wenn es eines der meistgespielten und am meisten aufgenommenen Stücke aller Zeiten ist?

Vivaldis Vier Jahreszeiten hat man (fast) schon überhört. Zu oft wurde dieses eigentlich wunderschöne Stück für Werbung, Klingeltöne und Warteschleifen missbraucht.

Doch es ist wiedergeboren.

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In der Reihe „Recomposed“ der Deutschen Grammophone wagt sich Max Richter an Vivaldis Le Quattro Stagioni.

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Vor dem britischen Komponisten durften sich bereits verschiedene Künstler aus der elektronischen Tanzmusikszene wie Jimi Tenor, Carl Craig und Matthew Herbert im Archiv des Labels bedienen. Das Ergebnis waren bekannte, klassische Werke (Ravels Bolero, Mahlers Fragment der 10. Symphonie), die gesampelt und mit Beats unterlegt zu neuem Leben erweckt wurden.

Der britische Komponist Max Richter, der zuletzt durch die Filmmusik für Waltz with Bashir in Erscheinung trat, setzte als Erster den Titel der Reihe „Recomposed“ wahrhaftig um. Er komponierte das Stück neu.

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Über dreihundert Jahre Musikgeschichte sind auch am Hörer nicht vorbeigegangen. Um Vivaldi für ein neues Publikum zu eröffnen, braucht es mehr als nur den Charme des spätbarocken roten Priesters, wie man den hoch verehrten Geigenvirtuosen Vivaldi nannte. Max Richter bedient sich der Methoden moderner Clubmusik, wie Dub und Electronica. Sampletechnik und Loops sind genauso wie bei seinen Vorgängern in der Reihe „Recomposed“ zu hören, jedoch werden diese nicht elektronisch erzeugt, sondern sind auskomponiert. Der neue Vivaldi hat nichts an Kraft und Temperament verloren. Doch er nutzt Beats statt förmlicher Schwerpunktrhythmik, lässt sphärische Klänge stehen und sich entwickeln, statt durch Generalbass den Klangraum zu füllen. Es ist ein Vivaldi durch die Brille des 21. Jahrhunderts gesehen.

Viele Eigenschaften zeitgenössischer (Tanz-) Musik, so Richter, sind schon in den Jahreszeiten von 1725 zu finden. Auch Vivaldi baute seine Stücke auf bestimmten Mustern auf. Die Minimal-Music der 1950er und 60er griff diese Kompositionsart später wieder auf und baute gesamte Stücke aus solchen „Patterns“, so Richter. Die Unterschiede zu heutiger Musik sind gar nicht so groß, wie man vielleicht glauben mag. Vivaldi legte einen wichtigen Grundstein für die Musik, die wir heute überall hören.

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Die Aufgabe und die Schwierigkeit für Richter war es nun, diesem Werk gerecht zu werden, ohne es unkenntlich zu machen und ohne sich zu stark an den Barockgestus anzulehnen. Die Erwartungen sind ohne Frage hoch, da jeder das Stück, zumindest in Auszügen, auswendig kennt.

Richter versucht durch seine Neukomposition mit Vivaldi in Dialog zu treten, seine Musik zu feiern und eigene, neue Nuancen beizumischen. Er nannte das „sich einschreiben“ (beatsinternational 2007) in die Partitur.

Er behält Gesten bei, die dramatischen und dynamischen Bögen der Sätze kann man wiedererkennen, ebenso viele Melodien. Diese werden gemischt mit neuen Klängen, werden wiederholt, verschoben, oder erklingen nur ansatzweise und dienen nur als kleine Reminiszenz (so ist zum Beispiel die wohl bekannteste Melodie aus dem ersten Satz des „Frühling“ nur hauchzart angedeutet). Manche Teile sind fast komplett neu komponiert und doch hört man deutlich, dass diese Stücke eine Hommage an den großen Tonkünstler des Barock sind.

Die neue Version Richters brachte dann das Kammerorchester des Konzerthauses Berlin unter dem Dirigenten André de Ridder mit dem Stargeiger Daniel Hope zum Klingen.

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Die Besetzung ist hervorragend. Hope hatte sich, nach eigener Aussage, noch nie an das Original gewagt, da es einfach schon zu viele Aufnahmen davon gäbe. Mit dieser Neukomposition konnte er sich dem Stück von einer ganz anderen Seite zuwenden und viel daran entdecken. Eine Freude für den Hörer, wie ihm das gelingt. Kraftvoll und galant meistert er den schwierigen Solopart scheinbar mühelos. Jede Nuance ist genau mit dem Orchester abgestimmt und alles fließt in einem so schlüssigen Gesamtbild zusammen, das man wirklich das Gefühl hat, die Musik habe etwas mit uns zu tun. Es ist Musik für Menschen des 21. Jahrhunderts.

Das Orchester funktioniert unter der Leitung de Ridders einfach wunderbar. Die groovigen Elemente reißen den Hörer genauso mit, wie die langen Ambiente-Klangflächen. Man spürt, wie sich Komponist, Dirigent und die Musiker in vielen Proben zusammen ein Stück erarbeitet haben. Richter hat tatsächlich nicht einfach eine Partitur abgeliefert, sondern aktiv an den Proben teilgenommen und noch während diesen immer wieder durch Gespräche mit dem Orchester, Hope und de Ridder Veränderungen vorgenommen – ganz wie Antonio Vivaldi es tat.

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Das Ergebnis ist Musik des 21. Jahrhunderts, die uns zeigt, wie man heutzutage immer noch an alten Werken etwas entdecken kann. Es ist Musik für neue Hörer und für alte Klassik-Fans, die ihren geliebten Vivaldi einmal ganz neu erleben wollen.

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Hier gibt es das Werk in Auszügen zu hören und ein Video zum berühmten dritten Teil des „Sommers“.

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